Vorhang auf

Es wird dunkel. Durch den schweren Vorhang dröhnt lauter Radau, bevor drei Clowns mit grossem Getöse in einen Boxring stolpern. Ich bin so gebannt, dass ich mein Glace vergesse und es meiner Mutter auf den Rock tropft. Heute, 32 Jahre später, stehe ich direkt vor ihm. Auch er ist älter geworden – und ungeschminkt. Aber sein verschmitztes Lachen ist unverkennbar. Bevor ich mich setze, achte ich darauf, dass er mir nicht den Stuhl unter dem Hintern wegzieht.

Herr Knie, was sind Sie für ein Mensch? Beschreiben Sie sich doch mal…

Ich bin ein Mensch auf der Suche.

Was suchen Sie?

Nach den richtigen Worten (lacht). Sich selbst zu beschreiben, ist immer schwierig. Es erinnert an ein Horoskop. Alles Positive würde ich unterschreiben. Das Negative natürlich nicht. Sicher habe ich nicht immer alles richtig gemacht. Aber deswegen bin ich jetzt die Person, die ich heute bin. Im Leben muss man oft zwei Schritte zurückgehen, damit man einen weiterkommt. Meistens ist ein Schritt davon ein Fehler.

Die ersten Schritte in Ihrem Leben waren schon aussergewöhnlich – alles begann in einem der weltberühmtesten Zirkusse. Wie sieht es hinter den Kulissen aus?

Es war wunderschön. In einem Zirkus aufzuwachsen, wünsche ich jedem Kind. Es ist eine intensive Zeit, in der wir alle paar Tage unsere Umgebung neu gestalten konnten und immer neue Freunde kennenlernten. Wir haben mit Tieren zusammengelebt und gearbeitet, was für Kinder eine wunderbare Erfahrung ist. So lernen sie früh, Tiere zu lieben. Die Vertrautheit und die persönliche Beziehung sensibilisieren. Das schafft den nötigen Respekt, um Tiere in der freien Wildbahn zu schützen. Nach den Ferien war es immer wieder traurig, den Zirkus zu verlassen und zur Schule zu gehen. Wenn der Chauffeur mich suchte, habe ich mich schnell versteckt.

Bemerkung: Aber schliesslich mussten Sie ja auch etwas lernen ...

Antwort: Das ist richtig, aber das tat ich vor allem im Zirkus. Mein Vater war sehr streng, vor allem in der Jugend. Wir mussten immer hart arbeiten und durften keine Ausreden haben. Seine Erwartungen waren unheimlich hoch. Wir sollten besser sein als die Angestellten und eine Vorbildfunktion übernehmen. Gleichwohl gab es bei uns im Zirkus aber auch keine Star-Allüren. Ob Zeltarbeiter oder Trapez-Artist, alle wurden gleich behandelt. Diese Philosophie verfolge ich bei Salto Natale genauso weiter. Mein Vater hat mich gut aufs Leben vorbereitet. Heute denke ich, er hätte noch strenger sein können.

Als Clown fällt man oft auf die Nase.

Sie waren immer unterwegs. Was ist Ihre Heimat?

Heimat ist da, wo ein Pflasterstein zum Freund wird, weil man ihn das ganze Leben kennt. Heimat ist da, wo man eine Beziehung zu einer Strassenlaterne aufbaut. Wo Freunde aus der Jugend sind. Denn genau diese Freundschaften sind stärker als diejenigen, die später entstehen – eine emotionale, unerklärbare Verbindung.

Im Alter von fünf Jahren waren Sie zum ersten Mal Clown in der Manege. Erinnern Sie sich noch?

Tatsächlich habe ich bis heute noch die Clownsnase von meiner ersten Aufführung. Wenn ich sie heute aufsetze, habe ich direkt einen markanten, aber angenehmen Geruch in der Nase, der mich an diesen Moment erinnert.

Was muss ein guter Clown können? Und sagen Sie nicht, Leute zum Lachen bringen.

Er muss Leute zum Lachen bringen ... (lacht). Es ist ganz einfach: Wenn die Zuschauer lachen, muss man sich nicht erklären. Thomas Gottschalk sagte mal zu mir, ich sähe gar nicht komisch aus. Aber darauf kommt es nicht an – Komik kann und darf nicht erklärt werden. Im Zirkus kannst du vieles lernen, aber nicht, ein Clown zu sein. Ein Künstler muss sich prostituieren. Dieser Drang ist entscheidend, um Menschen zu unterhalten. Denn es muss einem gefallen, dass die Leute dich toll finden. Sonst geht es nicht. Clown ist sicher kein einfacher Beruf, man fällt oft auf die Nase.

Sie meinen, dass keiner lacht?

Richtig. Mir ist das passiert – und diese Situationen lassen sich nicht retten. Ich hatte nachher in der Garderobe einen Nervenzusammenbruch und konnte für sechs Wochen nicht mehr auftreten. Mein Vater hat mich wieder langsam aufgebaut. Ich hatte es zu leicht genommen. Das erste Jahr als Clown lief sensationell. Ich dachte, es wäre wirklich einfach, und habe mich viel zu wenig vorbereitet.

Mittlerweile geht der Zirkus Knie in die 7. Generation. Wie sahen eigentlich die Anfänge aus – den Zirkus gibt es immerhin seit 1803?

Er war ein Wanderzirkus mit einem Wagen. Tatsächlich bin ich gerade dabei, die gesamte Geschichte veraufzuarbeiten. Zu dieser Zeit wurde mit Kisten mitten auf dem Dorfplatz eine Manege aufgebaut. Die alten Knies waren Hochseilartisten und spannten ihre Drahtseile bis auf Kirchtürme. Die Zeit von 1803 bis 1919 – in diesem Jahr wurde der Schweizer Nationalzirkus gegründet – war wirklich spannend. Meine Vorfahren hatten Begegnungen mit Königin Elizabeth und Napoleon. Aber finanziell waren sie immer am Rande der Existenz.

Das klassische Künstler-Klischee ...

Es ist aber so. Ein Künstler braucht Leidenschaft, es darf nicht ums Geld gehen. Nur so wird er authentisch. Das ist das Allerwichtigste bei der Darstellung deiner eigenen Rolle. Und authentisch sind leider die wenigsten ...

Mit 35 Jahren verliessen Sie den Zirkus Knie. Ausser Ihrer Vorstandsfunktion haben Sie nie wieder mit Ihrer Familie zusammengearbeitet.

Mein Bruder und mein Cousin machen das sehr gut. Da muss ich meinen Senf nicht dazugeben.

Heimat ist da, wo ein Pflasterstein zum Freund wird.

Sehr diplomatisch ... Machen Sie es besser bei Salto Natale?

Ich mache es einfach anders. Das lässt sich nicht vergleichen. Und das möchte ich auch nicht. Wir machen es auf unsere Art und haben Erfolg damit. In den letzten 15 Jahren konnten wir uns international einen Top- Namen erarbeiten. Und das macht mich stolz. Ich war jahrelang selber Artist und weiss, was es bedeutet, mit Leib und Seele dabei zu sein. Bei der letzten Vorstellung in der Saison fliessen bei ganz vielen Künstlern die Tränen hinter der Bühne. Emotional haut das einen um.

Sie wurden Schauspieler – kein unbekannter. Was ist anders auf einer Bühne als in der Manege?

Wenn man als Komiker den Zirkus überlebt, dann schafft man es auch im Theater. Zirkus ist ein grosser Härtetest. Umgekehrt ist es schwieriger. Gaston (Clown-Partner von Knie) und ich haben die Zirkuskomik bühnenreif gemacht. Und das war etwas völlig Neues. So kamen wir oft auch ins Fernsehen.

Viele Zirkusse klagen wegen Zuschauermangels. Was muss ein Zirkus heute anders machen?

Ein Zirkus muss visionär und avantgardistisch sein. Den Puls der Zeit treffen, dem Publikum etwas bieten. Ab dem Moment, wo ein Gast den Zirkus betritt, darf sich sein Auge nie wieder langweilen. Unsere Zuschauerzahlen steigen und die Gäste gehen begeistert heim. Es funktioniert, weil wir jedes Jahr etwas Neues erfinden. Die Qualität muss immer stimmen, aber vor allem müssen wir die Zuschauer überraschen.

In jungen Jahren waren Sie auch mal beim FCZ und im Junioren-Nationalkader. Warum hat es nicht zum Profi-Fussballer gereicht?

Es hätte schon ... (lacht). Ich habe immer viele Dinge gemacht und wurde oft gefragt, was mir am liebsten war: Ganz klar, Fussball! Ich war richtig gut – besser als die anderen. Ich konnte mit dem Gegner machen, was ich wollte. Ich war schnell und habe viele Tore geschossen. Ich habe Fussball einfach geliebt. Aber das war es vermutlich auch, warum mich eine Profikarriere nicht mehr interessierte. Ich wollte nie das machen, was andere von mir verlangten. Mein Bruder war zu diesem Zeitpunkt schon im Zirkus – und somit auch immer in der Zeitung oder mit hübschen Frauen unterwegs ... das hatte mich auch gereizt. Und so beendete ich mit einer Kurzschlusshandlung diese Fussballzeit. Ob ich es wirklich zum Profi gebracht hätte, stand ja doch auch in den Sternen.

Sie haben viele berühmte Leute kennengelernt – Böhm, Steinberger, Chaplin, Jackson, Chagall, Miró – und teilweise auch enge Freundschaften gepflegt. Wer hat Sie am meisten geprägt?

Mein Vater. Er war eine starke Persönlichkeit. Dafür bin ich sehr dankbar, ebenso dem Zirkus. Die Leute kamen schliesslich nicht wegen mir, sondern wegen des Unternehmens «Knie». Ich habe viele Freundschaften mit interessanten Menschen geschlossen. Aber auch von meinem Nachbarn auf Mallorca habe ich viel gelernt – ein 80-jähriger Bauer.

Was denn?

Mit der Natur umzugehen und demütig zu sein. Man kann von allen lernen, wenn man offen ist. Mein grösster Gegner ist die Zeit. Ich möchte noch viel machen und lernen, aber der Vorhang geht halt doch irgendwann zu. Auf der anderen Seite ist das auch gut. So bleibe ich rastlos.

Sie haben viel erreicht in Ihrem Leben und viele Menschen begeistert. Nur mit den Kunstkritikern tun Sie sich schwer. Woran liegt das?

Es gab noch nie einen Künstler, der immer nur bejubelt wurde. Kunst ist etwas sehr Persönliches und Intimes. Daher interessieren mich die schlechten Kritiken nicht. Ich sehe das alles sehr gelassen.

Und wie gut tut es, wenn Ihre Bilder dann doch hoch gehandelt werden?

So hoch werden sie ja gar nicht gehandelt – und das ist auch mein Vorteil. Jean Tinguely meinte mal zu mir, ich solle froh sein, dass ich vom Volk gestützt werde und nicht von Kritikern. Es gibt Kunst, die ist temporär extrem angesagt und bringt eine Menge Geld. Aber das kann sich auch schnell ändern, sie ist dann nichts mehr wert. Tinguely hat mir oft geholfen. So konnte ich auch eine Briefmarke für die Post entwerfen.

Wenn die Zuschauer lachen, muss man sich nicht erklären.

Also Ihr grösstes Bild auf zwei Quadratzentimetern?

(Lacht)… Ich weiss nicht, was die Kritiker dazu gesagt haben. Mir ist nur eines wichtig: Mit zunehmendem Erfolg werden viele Künstler faul und selbstherrlich, weil sie sich nichts mehr beweisen müssen. Dieses Gefühl hatte ich zum Glück noch nie.

Bald werden Sie 70. Sie blicken zurück auf ein vielseitiges Leben. Was war Ihr Meisterstück?

Ein internationales Fussballturnier in Hamburg. Wir standen im Finale – da habe ich am Schluss beim Penalty-Schiessen den Ball an die Latte geknallt… Ich höre den Ton heute noch.

Artisten leben vom Applaus. Was mochten Sie lieber – die Vorfreude und Nervosität auf die Vorstellung oder das Gefühl, wenn der Vorhang fällt?

Die Vorfreude ist spannender. In der Jugend war ich unbelastet und bin locker auf die Bühne gegangen. Je älter ich wurde, umso nervöser war ich vor der Aufführung. Gewisse Dinge verändern sich. Ich wusste halt, was alles schiefgehen kann.

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